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Meine Cousine Aaltje

  • von

 

von Fred Amram 

F.cousin.wIch bin ein Einzelkind. Während des Holocaust war es bei den jungen jüdischen Menschen in Deutschland üblich, nicht mehr als ein Kind zu haben. Meistens hatte man sogar überhaupt keine Kinder. „Warum sollte man auch mehr jüdische Kinder in diese Welt bringen?“ fragte Mutti oft. Und tatsächlich: wozu? Papa hatte eine ältere Schwester, Tante Beda, die Ernst Ludwig geheiratet hatte. Die beiden hatten keine Kinder. Papas jüngerer Bruder, Onkel Max, war ein Aufstehmännchen. Ich mochte ihn von der ganzen Verwandtschaft am meisten. Onkel Max heiratete Jenny, als er schon älter war, und auch die beiden hatten keine Kinder. Sie starben alle eines natürlichen Todes in den USA. Mutti war die älteste von drei Kindern. Die zweitälteste Tochter hieß Karola. Sie heiratete Jakob; auch in dieser Familie gab es keine Kinder. Karola starb am 6. Januar 1945 im Ghetto Riga in Lettland. Wahrscheinlich starb Onkel Jakob auch dort. Tante Käthe, die Mutti immer das Baby nannte, zog nach Amsterdam, wo sie einen holländischen Juden, Isaak Wurms, heiratete. Die beiden hatten ein Kind und damit meine einzige Cousine Aaltje. Aaltje wurde am 21. August 1939 geboren, als sich die Juden in Holland noch sicher fühlten.

Ende Oktober 1939, kurz nachdem Aaltje geboren wurde, haben Mutti, Papa und ich, der 6-Jährige Abenteurer, Deutschland verlassen. Alles fing damit an, dass wir Muttis Schwester Käthe und ihren Ehemann Onkel Isaak in Amsterdam besuchten. Das war das erste und das letzte Mal, dass ich Aaltje sah. Ich durfte das Baby halten und habe es mit viel Liebe getan, ganz besonders deswegen, weil ich immer wieder daran erinnert wurde, dass dies meine einzige Cousine war. Leider ließ es sich mit dem Baby nicht so gut spielen. Ich meine, wie soll man mit einem neugeborenen Kind „spielen“? Man kann vielleicht höchstens mit einer Kinderrassel etwas rasseln und hoffen, dass das Baby daraufhin ein bisschen gluckst. Wahrscheinlich sind wir auf dem Teppich zusammen herumgekrabbelt, und ich habe ihr etwas vorgesungen. Jedenfalls war das eine typische Kinderliebe.

Fred Amram ist der Junge vorne im Bild mit seiner Mutter und andere Familienmitgliedern, ca. 1938. Quelle: Privatbesitz.

Anfang November 1939 sind meine Eltern und ich nach Antwerpen in Belgien gezogen. Ich erinnere mich leider fast gar nicht mehr an diese Reise, weil sie nur ein paar Tage gedauert hatte: wir sind ein bisschen Zug gefahren und sind etwas gelaufen, mehr fällt mir dazu nicht ein, aber ich weiß, dass ich Aaltje bereits sehr vermisste.

Am 10. Mai 1940 sind die Nazis in Holland einmarschiert. Die Details über das Leiden der Familie wissen wir nicht, ich habe mir allerdings später die Dokumente aus Yad Vashem in Jerusalem angeschaut und dort steht, dass Aaltje am 19. Februar 1943 zusammen mit ihrer damals 29-jährigen Mutter in Auschwitz ermordet wurde. Die Nazi-Mörder haben ihre skrupellosen Taten sehr genau dokumentiert. Aaltje war zu dem Zeitpunkt, als sie ermordet wurde, 3½ Jahre alt.

Was kann ich über Aaltje Wurms sagen? — Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass sie ein kleines Baby war, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Heute kann ich mir leider nur vorstellen, was gewesen wäre, wenn sie hätte leben dürfen. Sie hätte Anne Frank sein können, oder sie wäre eine Wissenschaftlerin geworden und wäre für eine ihrer Entdeckungen mit einem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Möglicherweise wäre sie aber auch eine Hausfrau geworden und hätte ihre eigenen Kinder und Enkelkinder großgezogen. Sie hätte alt werden können, so wie ich es geworden bin. Wir hätten beide alt werden können; meine Cousine und ich, nur dass sie immer sechs Jahre jünger gewesen wäre. Aber nun sind meine Eltern tot, Onkel und Tanten sind tot und meine einzige Cousine Aaltje ist tot. Ich bin allein geblieben und alles was ich von meiner Verwandtschaft habe, ist ein Foto von einem Kind, das den Holocaust nicht überlebt hat.

Fred Michael Brick Amram
www.fredamram.com

Übersetzt aus dem Original von Tanja Grinberg: http://www.fredamram.com/Aaltje.html